Der verwilderte Garten

Wir stritten mal wieder über eine Kleinigkeit und während ich meinem Partner verletzende Vorwürfe entgegen schleuderte, stand ein anderer Anteil von mir entsetzt neben mir und fragte sich, was ich hier eigentlich gerade tue. Warum machte ich aus dieser Mücke gerade so einen Elefanten? Dennoch konnte dieser Anteil den gerade ausbrechenden Vulkan in mir nicht stoppen.

Kennst Du solche Momente auch von Dir? Wer ist das nur, der da augenscheinlich das Ruder übernommen hatte? Wie der Volksmund so schön sagt: „Welcher Teufel hat mich da geritten?“ So viel Porzellan zerschlagen wir in diesen Momenten, die uns am nächsten Morgen meistens schrecklich leid tun.

Carl Gustav Jung prägte mit seiner Theorie vom Schattenkonzept maßgeblich die Tiefenpsychologie und gab uns ein Modell an die Hand, welches sehr nützlich ist, um uns und unser Handeln im ersten Schritt verstehen zu lernen. Jung versteht unter dem Schatten all unsere inneren Anteile und Glaubenssätze, von denen wir nichts wissen, die uns jedoch aus dem Unterbewusstsein heraus steuern. Wenn wir als Kind nicht wütend sein durften oder ausgebremst wurden, wenn wir so richtig wild tobten oder alberten und dafür getadelt wurden, nahmen wir uns immer mehr zurück und unterdrückten diese Impulse. Die eigentlich positive Wutkraft beispielsweise, die uns hilft, zu uns selbst zu stehen und unsere Grenzen klar zu kommunizieren, wanderte in den Schatten und wurde zu einer nicht steuerbaren Kraft, die heute wenn überhaupt nur noch über Wutausbrüche sichtbar wird. Oder wir wurden zu braven Kindern, deren ursprüngliche Wildheit ebenfalls zu einem Schattenanteil wurde. Ich beispielsweise war als Teenager stolz darauf, keine „albernen“ Träume zu haben wie meine Freundinnen. Und meine Wut fand ihren Ausdruck nur noch über geknallte Türen.

„Wer zugleich seinen Schatten und sein Licht wahr nimmt, sieht sich von zwei Seiten. Und damit kommt er in die Mitte.“

Carl Gustav Jung

In ihrem Buch „Die Sehnsucht der starken Frau nach dem starken Mann“ nutzt Maja Storch die wunderbare Metapher von dem verwilderten Garten. In diesem wachsen alle Pflanzen wie sie wollen und am ehesten die, welche wir gar nicht darin haben wollen. Ebenso verhält es sich mit unseren Schatten. Solange wir sie nicht wahrnehmen und auf gesunde Art und Weise integrieren, verwildern sie völlig unkontrolliert. Sie stehen sozusagen mit am Ruder unseres Lebens und übernehmen dieses hin und wieder ganz plötzlich, meistens völlig überraschend, aus dem Unterbewusstsein heraus. Und machen uns damit Angst. Laut Maja Storch gilt die Faustregel: „Je extremer die bewusste Einstellung, desto extremer der Schatten, der die gegenteilige Position vertritt.“

Wie erkennen wir nun unsere Schatten, wenn wir sie doch verdrängt haben? Zunächst können wir uns fragen, welche extremen Eigenschaften wir haben. Sind wir beispielsweise extrem fleißig, haben wir die diametral gegenüberliegende Eigenschaft, den Faulenzer, in den Schatten gedrängt, der dann vielleicht kurz vor Fertigstellung der Dissertation zu einer Schreibblockade führt. Übrigens ist dies zugleich auch ein kollektiver deutscher Schatten, weshalb wir uns im Urlaub in den südlichen Ländern so wohl fühlen. Denn dort hat der Faulenzer seinen ganz bewussten Platz im Leben, im „dolce far niente“, dem „süßen Nichts Tun“.

Die menschliche Natur strebt nach Ganzheit, nach der Integration aller Anteile. Und hilft uns ebenfalls beim Erkennen, indem wir uns unbewusst von Menschen angezogen fühlen, die ausleben, was wir in den Schatten gedrängt haben. Unsere Partner werden sozusagen zu unserem Spiegel. Was wir an uns nicht wahrhaben wollen, können wir bei ihnen sehen.

Ist deine Lebendigkeit in deiner Kindheit in den Schatten gewandert, lebst du heute vielleicht mit einer Partnerin zusammen, deren Quirligkeit dich anfangs fasziniert und später in der Beziehung nur noch nervt. Dies ist der Punkt, an dem das Wissen um das Schattenkonzept so wichtig wird. Dein Partner spiegelt dir Deine Schatten.

Mir helfen bei meiner Reflektion sehr die Spiegelgesetze. Unsere Partnerschaft ist der Ort, an dem wir am häufigsten und schmerzhaftesten getriggert werden. Je lebendiger die Beziehung, um so mehr stimuliert sie unsere Schatten. Sie ist daher die perfekte „Übungsmatte“ wie das Veit Lindau in „Liebe Radikal“ benennt, auf der wir üben können, selbstverantwortlich und bewusst unsere Schattenanteile wahr zu nehmen und zu integrieren. Stück für Stück können wir so Licht in unseren verwilderten Garten bringen, in dem jede Pflanze ihren Platz zum Gedeihen bekommt.

Anstatt Deinen Partner zu bekämpfen, kümmere dich um deinen eigenen Garten. Voller Mitgefühl für dich selbst und deine Liebste.