Was ist der Unterschied zwischen „bedürftig sein“ und „ein Bedürfnis haben“?

Wann bin ich bedürftig und wann habe ich ein Bedürfnis? Lange war der Unterschied mir nicht wirklich bewusst. Dank eines englischsprachigen Newsletters von Damien Bohler fügten sich so einige meiner Puzzleteile zusammen und der Nebel lichtete sich. Da seine Analyse so einen großen Aha-Effekt bei mir ausgelöst hast, möchte ich an dieser Stelle davon berichten.

Viele von uns haben früher, oft bereits in der Kindheit, die Erfahrung gemacht, dass Bedürfnisse auf die eine oder andere Weise beschämt, vernachlässigt oder übergangen wurden, beispielsweise, wenn wir als Kind traurig waren und unsere Bezugsperson uns ablenkte anstatt uns Trost und Nähe zu schenken. Unbewusst führt dies zu einer Verwirrung darüber, ob es überhaupt zulässig ist, ein Bedürfnis zu haben.

Wenn uns nie beigebracht wurde, dass unsere Bedürfnisse natürlich, normal und akzeptabel sind und wie wir diese zum Ausdruck bringen können, werden wir unweigerlich und unbewusst Strategien erlernen, die es uns ermöglichen, entweder das Bedürfnis komplett weg zu drücken oder es auf indirektem Wege erfüllt zu bekommen.

Im Erwachsenenalter kann dies zu dem Zustand führen, den wir als „Bedürftigkeit“ kennen. In einer früheren Partnerschaft bekam ich des Öfteren das Feedback, ich wäre so bedürftig. Erst heute kann ich diese Äußerung tatsächlich verstehen, die auf ihre intuitive Art sehr weise war.

Es geht nicht darum, dass das Bedürfnis an sich falsch ist, sondern um die indirekte und unbewusste Art und Weise, in der das Bedürfnis seinen Ausdruck findet. Verbunden damit ist die unbewusste Erwartung an die Erfüllung des Bedürfnisses. Insofern ist Bedürftigkeit ein verzerrter Ausdruck eines echten Bedürfnisses, welches wir weder spüren noch adäquat und verletzlich formulieren können.

Zum Beispiel ist das Bedürfnis nach einem gesunden und angemessenen Maß an Verbundenheit und Zuneigung in einer Beziehung normal und sogar notwendig für das Gedeihen der Beziehung.

Wenn ich jedoch nicht in der Lage bin, dieses Bedürfnis bewusst in mir wahrzunehmen und auf verletzliche Weise auszudrücken, dann wird der Ausdruck dieses Bedürfnisses auf eine Weise erfolgen, die die Erfüllung des Bedürfnisses sabotiert.

Ich verlange dann vielleicht extrem viel Aufmerksamkeit, werde gar zum sogenannten „Klammeräffchen“. Oder ich fange Streit an, werde mürrisch oder ziehe mich zurück, wenn ich nicht die Zuneigung bekomme, die ich mir wünsche. Vielleicht greife ich zu subtilen Strafen oder einer anderen Form von Protestverhalten.

Das Bedürfnis ist echt, aber die Art und Weise, wie es ausgedrückt wird, kommt eher vom kindlichen Ich als vom Erwachsenen Ich, entspricht der Strategie, die wir als Kind erlernt haben. Es kann hilfreich sein, in solchen Momenten in uns hinein zu spüren und uns zu fragen, wie alt wir uns gerade fühlen.

Ein Bedürfnis auf gesunde Weise auszudrücken, sieht in etwa so aus:

„Ich merke, dass ich gerade ziemlich ängstlich bin und das Bedürfnis habe, mich zu beruhigen und etwas Zeit mit dir zu verbringen.“

Die Angst oder die „Wunde“ ist dann zwar immer noch da, aber ich nehme sie wahr und gebe ihr Raum. Sie darf da sein und ich übernehme Verantwortung für mich und mein Bedürfnis. Das reduziert den Druck, die Erwartungen und den Anspruch, den wir unbewusst auf einen Partner ausüben können, und gibt ihm stattdessen den Raum, uns so zu begegnen, wie er es in dem Moment gerade kann.

Falls Dir das Zitat etwas befremdlich vorkommt, bist Du nicht allein. Viele von uns sind es nicht gewöhnt, Unsicherheiten oder gar Ängste wahrzunehmen, zu fühlen und auszudrücken. Dies braucht es jedoch, um dann auch einen Zugang zu unseren Bedürfnissen zu bekommen. Die Entwicklung unserer Kommunikation darüber ist ein wesentlicher Bestandteil auf dem Weg in eine lebendige und erfüllende Partnerschaft, in der wir uns sicher fühlen können.